Zeitgeschichte zum heutigen Jahrestag der Reichspogromnacht vom 09.11.1938
Unsere Nachbarn waren Juden
Franz und Heinz Planken erinnern sich [1]
Unsere Nachbarn, die jüdische Familie Ruhstädt, wurden „Seliges“ genannt. Dieser Name führt zurück auf den Erwerber des Hauses, das bis Anfang der 70er Jahre zwischen uns – der heutigen Pension Planken – und dem Haus Dille, An den Linden, stand, nämlich Selig Ruhstädt, der hier seit 1835 eine Blaufärberei an der „Renne“ betrieb.
Wir haben als Kinder in den 30er Jahren nur noch die Schwiegertochter von Selig Ruhstädt, Miriam – sie war schon Witwe – und deren Kinder Emil und Sophie gekannt. Emil und Sophie waren noch einige Jahre älter als unsere Eltern.
Emil war zu unserer Zeit schon von Alme weggezogen, besuchte aber immer wieder seine Mutter und Schwester. An ihm fiel uns auf, dass er immer schwarz (Anzug, Mantel) gekleidet war und einen Hut trug, der irgendwie anders aussah als die Hüte der anderen Almer Männer.
Seliges hatten einen Kramladen, in dem es fast alles zu kaufen gab, was man damals so brauchte. Wir als Kinder waren oft bei Seliges. Da war immer etwas los und für uns gab’s da manchen Groschen zu verdienen oder es gab zumindest ein paar Klümpchen. Wenn der LKW der Firma Epping aus Lippstadt kam, waren wir immer zur Stelle und halfen Ware ausladen. Danach gab’s dann die für uns so leckeren Klümpchen. Wenn Ware am Bahnhof angekommen war, fuhren wir mit dem Handwagen los und holten die Pakete ab. Dafür bekamen wir immer einen Groschen – viel Geld für uns damals.
Der kleine Laden, der auch samstags geöffnet war – am jüdischen Sabbat – war vollgestopft mit Waren. Der Kaffee wurde von Miriam und Sophie selbst geröstet – aber wann gab es zu der Zeit mal Bohnenkaffee? Es gab nicht nur die notwendigen – im Gegensatz zu heute spärlichen – Lebensmittel. Auch Stoffe, Kurzwaren u. ä. wurden verkauft. Wenn im Dorf jemand gestorben war, wurde bei Seliges der Leinenstoff für das Totenhemd gekauft.
Das ganze Dorf war hier Kunde, auch die Nazis. Die Kinder gingen am liebsten zu Seliges zum Einkaufen, denn alle bekamen von Sophie eine Hand voll Klümpchen.
Wir hörten oft, das Seliges den Leuten Waren ohne Bezahlung oder auf „Pump“abgaben oder auch Geld liehen, wenn jemand finanzielle Schwierigkeiten hatte. Die alten Leute erzählten, dass der alte Ruhstädt dem Niederalmer Schützenverein – das muss kurz vor dem 1. Weltkrieg gewesen sein – zinslos Geld für die Überdachung des Tanzzeltes geliehen habe.
Der damalige Pfarrer Otto wohnte noch in der Pastorat an der Moosspringstraße (heute Haus Konitzer) und war so fast Nachbar von Seliges und auch deren Kunde. Wir bewunderten immer den Schäferhund von Pfarrer Otto, der mit einem Korb im Maul durch den Garten zum Laden lief. Der Einkaufszettel lag im Korb, Sophie legte die Ware in den Korb und schickte den Hund dann wieder zurück.
Wenn viel zu tun war, half unsere Mutter im Laden aus. Dann gab es ausnahmsweise bei uns kein Mittagessen, und wir bekamen dann oft jüdische Matzen (ungesäuertes Brot) zu essen, die uns vom Geschmack an die Hostien in der Kirche erinnerten.
Wenn der Laden auch klein war, so machte das ganze Haus doch auf uns Kinder damals einen großzügigen und fast wohlhabenden Eindruck. Es gab zwei ungewöhnlich große Zimmer. Das waren wohl mal Klassenräume gewesen, denn in diesem Hause war früher die Schule untergebracht. Eines der großen Zimmer war das Wohnzimmer mit dunkelroter Seidentapete, gepolsterten Stühlen – so etwas kannten wir doch gar nicht – und dunklen, wertvollen Eichenmöbeln. An der Wand hing ein Samtkissen mit dem EK I – Orden (Eisernes Kreuz) von Emil Ruhstädt aus dem 1. Weltkrieg.
Der zweite große Raum war die Küche. Hier standen drei riesengroße Eichenschränke, in denen die Stoffballen – vor allem Nessel- und Schürzenstoffe – aufbewahrt wurden. In dieser Küche gab es auch ein Radio – sicher eines der ersten in Alme. Dieses Radio wurde mit einer großen Batterie betrieben. Die Batterie mußte immer zur Mühle (Rungen) gebracht werden, um sie dort aufladen zu lassen. Auch diese Aufgabe übernahmen wir gerne, gab es doch hierfür wieder 5 Pfennige. So waren Seliges für uns eine feste Einnahmequelle.
Gleich neben der Küche war die Färberei, ein hoher dunkler Raum. Durch ein gemauertes Bassin floss die Renne. Zu unserer Zeit diente diese „Färberei“ nur noch als Waschküche. In dem Bassin mit der durchfließenden Renne wurden von Miriam und Sophie die Heringe gewässert. Bei Seliges gab’s die besten Heringe von ganz Alme.
Für uns etwas Sonderbares hing im Flur: ein langer Zopf mit Knoblauchzehen – das war uns natürlich ganz fremd.
Seliges hatten einen guten, aber auch etwas distanzierten Kontakt zu den Almern. Wir können uns nicht erinnern, dass Miriam und Sophie an irgend einem dörflichen Fest oder auch an Familienfesten in der Nachbarschaft teilgenommen haben. Auch haben wir nie jüdische Feste oder Bräuche (außer Matzen essen) bei ihnen kennen gelernt. Wir haben sie immer als freundliche und großzügige Nachbarn erlebt.
Unsere Mutter hatte auch guten Kontakt zu Sophie Willon in Brilon. Sie war eine geborene Ruhstädt und stammte aus Seliges Haus. Wenn unsere Mutter nach Brilon zum Arzt mußte oder sonstige wichtige Dinge erledigen wollte, nahm sie oft eines von uns Kindern mit. Bevor sie zum Arzt ging, gab sie uns dann bei Sophie Willon in Brilon in der Königstraße (heute das Geschäft „Bild und Rahmen“) ab. Dieses Mal war ich (Heinz) mal wieder an der Reihe und durfte mit meiner Mutter nach Brilon fahren. Als wir dann gerade bei Willons angekommen waren, wurde im Radio durchgegeben, dass an dem Tag (09. April 1940) die Wehrmacht in Norwegen einmarschiert ist. Ich weiß noch genau, wie Willons Sophie damals zu unserer Mutter sagte: „Anna, jetzt geht es erst richtig los.“
Manchmal haben wir Kinder auch Seliges geärgert – genau so wie andere Nachbarn. Hinter Seliges Haus stand im Garten – wie bei vielen alten Häusern damals – das Klohäuschen. Das Klohäuschen hatte natürlich, wie üblich, ein kleines Herz in der Tür und – schon sehr fortschrittlich – einen kleinen rechteckigen Holzkasten an der Wand, in dem sauber und passend abgeschnittenes Zeitungspapier als Toilettenpapier lag. Bei den meisten hing in dieser Zeit eine Zeitung an einem Nagel und man riss sich einfach ein passendes Stück Papier ab.
Nun zu unserem Streich, an dem sich Lukengeln Paula (Korfs) auch gerne beteiligte. Manchmal, wenn die alte Miriam im Klohäuschen saß, hörten wir sie nach Ihrer Tochter rufen: „Sophie, Papier! Sophie, Papier!“ Wenn Sophie das nicht sofort hörte oder sie mit Kunden im Laden beschäftigt war, hatten wir nichts Besseres zu tun, als ganz schnell Wasser durch das Herzchen in der Tür zu schütten oder Gras o.ä. durchzuwerfen. Wenn‘s dann zu Hause raus kam, gab’s natürlich kräftig Ärger.
Auch wenn Seliges die letzten noch in Alme wohnenden Juden waren, wurden sie von den Übergriffen in der „Reichskristallnacht“ (09. November 1938) nicht verschont. Wir Kinder selbst haben an dem Abend nichts davon mitbekommen. Wir hören aber heute noch unsere Mutter am anderen Morgen immer wieder ganz aufgelöst sagen: „Se hätt ne de ganzen Scheyben kuart schmitten“. Das Haus sah schlimm aus. Schmitds Karl (Auf der Renne) hat die Scheiben wieder eingesetzt, was für ihn nicht ganz ungefährlich war. Er musste damit rechnen, von Parteispitzeln dabei beobachtet zu werden. Wir als Kinder haben ihm dabei geholfen, indem wir den harten Kitt auf einem alten Holzklotz weich kneten mußten.
Für Sophie war am schlimmsten, dass die Nazis Emils EK I, auf das die ganze Familie stolz war, mitgenommen hatten. Sie hat damals gesagt: „Die Leute, die bei uns die meisten Schulden haben, haben das meiste kaputt gemacht.“
Nur wenige Monate später (10.01.1939) starb Seliges Miriam. Sie war damals 89 Jahre alt. Die Nazis wollten verhindern, dass die Tote mit dem katholischen Leichenwagen zum Judenknapp (Judenfriedhof) gefahren wurde. An den Anschaffungskosten des Leichenwagens hatten sich seinerzeit Seliges beteiligt. Der Henkenbur (Franz Ebers) hat dann den Leichenwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde, gefahren. Die alte Miriam war die letzte, die am Judenknapp beerdigt worden ist. An der Beerdigung haben nicht viele Leute teilgenommen, weil alle Angst hatten, Schwierigkeiten mit den Nazis zu bekommen, wie später der Henkenbur.
Sophie sahen wir jetzt kaum noch. Sie ging nicht mehr aus dem Haus und hatte nur noch wenig Kontakt zu anderen Familien in Alme.
Das Bild haben wir noch genau vor uns: Unsere Mutter ging fast täglich mit ihrem Holzkorb über den Hof in den Holzstall. In diesem Korb hatte sie Lebensmittel versteckt. Der Holzstall grenzte direkt an Seliges Haus. In die dicke, angrenzende Hauswand war ein Loch gebrochen worden, durch das unsere Mutter Seliges Sophie durch ein ebenfalls geschnittenes Loch in der Holzstallwand mit den nötigsten Lebensmitteln versorgte. Oft kam unsere Mutter danach weinend mit ihrem Korb voll Brennholz zurück. Sophie und unsere Mutter haben bei diesen
Treffen des öfteren beraten, ob Sophie einen Ausreiseantrag stellen sollte oder nicht. Aber Sophie meinte, sie sei zu alt und wolle lieber in Alme bleiben. Sie war damals 59 Jahre alt.
Emil, der für kurze Zeit wieder in Alme wohnte, wanderte 1941 nach Amerika aus.
Franz Ebers (Henkenbur) half hier auch wieder und brachte mit seinem Pferdewagen die Umzugskisten zum Almer Bahnhof. Er wurde von Almer Parteimitgliedern gewarnt, dass er beobachtet würde und mit Schwierigkeiten rechnen müsse. Unser Vater hat dann die letzten zwei der vielen gepackten Kisten zum Bahnhof gebracht. Die Kisten von Emil Ruhstädt wurden jedoch bei der Bahn nicht mehr angenommen. Wir wussten nicht, warum. Diese Kisten standen dann Monate lang verschlossen bei uns im Keller. Nach langer Zeit wurden die Kisten dann doch geöffnet. Sie waren voll mit Eingemachtem in Gläsern und Dosen. Diese sollten wohl die Versorgung für die erste Zeit in der Fremde sein.
Folgenschwer war nun für den Henkebur diese Angelegenheit. Nachdem er schon bei der Beerdigung von Miriam in der Öffentlichkeit aufgefallen war, wurde er jetzt nur wenige Wochen später an die Front geschickt, obwohl er verheiratet war und schon seine drei Brüder eingezogen waren. Schwerkrank kam Franz Ebers nach dem Ende des Krieges zurück nach Alme.
Eines Tages war auch Sophie weg. Genaues wußten wir nicht. Es wurde alles hinter „vorgehaltener Hand“ erzählt. Alle hatten Angst – das merkten wir auch als Kinder.
Später haben wir erfahren, dass ihr Bruder Emil sie nicht alleine in Alme zurücklassen wollte und für seine Schwester eine vorübergehende Bleibe bei Verwandten in Wetzlar gefunden hatte. Sophie sollte von dort aus versuchen, noch eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Sophie wurde aber von Wetzlar aus nach Theresienstadt deportiert und ist dort im KZ umgekommen.
Seliges Haus, das Georg Schumacher (Wünnenberger Straße), der viel Kontakt mit Seliges hatte, noch von Miriam vor ihrem Tod gekauft hatte, wurde Anfang der 70er Jahre, schon stark verfallen, von englischen Soldaten abgerissen. Diese hatten auf Vermittlung von G. Schumacher auch in den 60er Jahre die Ausschachtungsarbeiten für die neue Gemeindehalle übernommen
Selma Deckmann, geb. Willon (+ 1986), eine Cousine von Sophie Ruhstädt, hat uns bis in die 80er Jahre noch oft besucht. Auch deren Tochter Gisela, die in Norwegen lebt, besucht fast jährlich Deutschland und kommt dann mit ihrem Mann auch für einige Tage nach Alme.
Hinweis:
Detaillierte Aufzeichnungen zur Geschichte der Juden in Alme finden Sie in dem Büchern:
U.
Hesse, Jüdisches Leben in Alme,
Altenbüren, Brilon, Madfeld, Messinghausen, Rösenbeck, Thülen (Herausgeber: Stadt Brilon, 1991) und A. Bruns, Amt Thülen (1974)
[1] Franz Planken (* 1927) / Heinz Planken (*1930)
Quelle: Alme, Grenzort zwischen Kurköln und dem Hochstift Paderborn, Beiträge zur Geschichte (2002 Podszun-Verlag)
Was passierte in dieser Nacht? Weitere Informationen gibt es HIER
Nachdenkliche Worte und die Mahnung aufzupassen fand schon der damalige Präsident des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, am 09. November 2000 in seiner Rede. Leider heute aktueller denn je…
Nachzulesen beim ZENTRALRAT DER JUDEN
Danke für diesen, nachdenklich machenden Artikel!