Das Mühlental
(Text: Marlies Jütte)
Schon die Dichterin Annette von Droste Hülshoff (1797-1848) und Levin Schücking (1814-1883) ein Zeitgenosse und Freund der Dichterin beschrieben das Mühlental im überschwänglich-romantischen Stil der damaligen Zeit als eine Landschaft: „wie aus einem Märchen entlehnt“.
Und noch heute, fast zweihundert Jahre später, bescheren die Almequellen und das sich südlich anschließende tief eingeschnittene schmale Mühlental, mit den bizarren Felsformen und Klippen, dem Besucher Eindrücke und Naturerlebnisse, die sich durchaus als märchenhaft beschreiben lassen.
Es ist die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensräume auf engstem Raum, das komplexe Zusammenspiel und -wirken der Pflanzen und Tiere, die, ob im Großen oder Kleinen beobachtet, in nahezu unzähligen Erscheinungsformen alle unsere Sinne ansprechen und erfreuen. Hier im Tal und bei den Quellen findet, wer möchte, die Freiheit und Freude längst vergangener Kindertage wieder, ein Gefühl, das im vorbehaltlosen Staunen und Bewundern liegt.
Die Wandlungsfähigkeit des Tals im jahreszeitlichen Rhythmus ist immer wieder überraschend und reizvoll. Doch im Frühling ist Natur erleben um ein Vielfaches intensiver und nachhaltiger, denn nun klingt und schwingt in allem der Hauch einer fröhlichen Aufbruchstimmung.
Schon Ende Februar – Anfang März, wenn die Sonne manchmal eine gewisse Frühlingsatmosphäre schafft, geht?s mit Gesang in die Saison. Zunächst wird nur ein wenig geprobt. Leise und verhalten bringen sich Kohl- und Blaumeisen in dem kleinen Erlenwäldchen unterhalb der Almequellen stimmlich in Schwung. Auch ein Rotkehlchen singt hier schon zart und hingebungsvoll seine ersten perlenden Strophen – fast möchte man es Silberkehlchen nennen.
Ein Stockwerk tiefer schmettert der Zaunkönig seine eigene Fanfare aus einem Schwarzdorn. Er legt sich, was die stimmliche Lautstärke seiner Lieder betrifft, keinerlei Beschränkungen auf; aber schließlich ist er ja König in seinem Revier. Nur ein paar Meter weiter trainiert hoch oben in der Spitze eines Haselstrauchs die Heckenbraunelle ihren Gesang in anhaltendem Vibrato hell erklingender Tonketten.
Vier Wochen später ist das Vogelorchester fast komplett. Amsel, Drossel, Fink und Star…, alle meistern ihr Lied. Weithallend trommelt im Hintergrund jemand den Takt. Der Schwarzspecht bearbeitet im wirbelnden Tremolo sein Instrument – eine alte ausgehöhlte Buche. Eine geneigte Zuhörerin wundert sich, dass bei diesem rasanten Tempo niemand aus dem Takt herausfällt.
Auch die Bodentruppe des kleinen Erlenbruchs ist längst zum Leben erwacht. Aus einem selbst ausgelegten Teppich glänzend grüner, rundlicher Blätter strahlen die gelben, sternförmigen Blüten des Scharbockskrautes mit der Sonne um die Wette. Ganz in Weiß, jedoch nicht minder strahlend, hat sich auf leicht erhöhten, etwas trockeneren Bodenstellen das Buschwindröschen ausgebreitet. Hier und da sind auch seine gelb blühenden Verwandten, das Gelbe Windröschen zu sehen. Ganz nah am Almeufer und überall dort, wo es quellig-feucht ist, fühlt sich das Milzkraut wohl. Seinen Namen bekam das Pflänzchen im Mittelalter. Damals wurden die Blätter wegen der Ähnlichkeit mit dem menschlichen Organ als Medizin gegen die Erkrankung der Milz verwendet. Ausgedacht hat sich diese Heilmethode Paracelsus (1493-1541), ein damals berühmter Arzt, der mit seiner »Signaturlehre« den Menschen als Ganzes in der Natur eingegliedert sah – eine Ansicht, die das damalige Weltbild ziemlich auf den Kopf stellte.
Quellen dagegen sind von jeher in der Denkweise der Menschen das Symbol für Ewigkeit, für Überfluss und Leben.
Auch die Almequellen verströmen zeitlose Atmosphäre und lebendigen Überfluss. Sie sind seit Menschengedenken nicht versiegt. Unaufhörlich sprudeln viele der Quellen im unterschiedlichen Zeittakt silbrige Perlenreihen vom Teichgrund an die Oberfläche. Einige entlassen im Aufsteigen Luftbläschen aus grünlichblauen Kolken. Andere stürzen kleine Gischtfontänen versprühend einfach aus dem Berg. Wieder andere vereinen sich zu springlebendigen Stromschnellen. Gemeinschaftlich und in munterem Geplauder umspülen die Quellwasser Inseln mit urig gewachsen Erlengruppen, treiben reflektierte Sonnenlichter in tanzenden Wellen die Erlenstämme hinauf, umplätschern ausgebleichtes Kalkgeröll und durchströmen seicht und sanft, altes, verwachsenes Wurzelgeflecht, das am Teichufer unter dicht mit Moosen und Flechten behangenem Holundergestrüpp, blankgewaschen im Wasser liegt.Ein Refugium für viele Tiere und Pflanzen die es feucht und wässrig mögen.
Eine Gebirgsstelze, die sich hier zu Hause fühlt, mag nicht nur schnell fließende Gewässer. Sie lebt außerdem – etwas extravagant – gern in der Geräuschkulisse tosender Gischt, wenn es auch nicht gleich die Niagarafälle sein müssen. Darum baut sie ihr Nest aus Zweigen, Gräsern und Moosen jedes Jahr in die Nähe eines kleinen Wasserfalls, unter das Wurzelgeflecht einer Schwarz-Erle. Während das grauschwarzgelb gefiederte Stelzenpärchen wippend und knicksend auf einer schwimmenden, verfilzten Pflanzendecke nach Nistmaterial sucht und sich nebenbei immer wieder mal einen Insektenhappen gönnt, arbeiten auch andere Pärchen oder Einzelgänger mehr oder weniger eifrig an neuen Eigentumswohnungen.
Ein Stockentenweibchen macht es sich leicht. Schwungvoll hüpft sie auf den Bult einer Rispen-Segge, dreht sich ein einige Male gemächlich im Kreis, tritt dabei mit »breiten« Entenfüßen eine Mulde, zupft ein paar Daunen aus dem Brustgefieder und fertig ist das warme, gemütliche Entennest.
Fix und fertig ist auch eine Köcherfliegenlarve, die gerade im Schutz einer flutenden Brunnenmoosdecke ihren Köcher ausgebaut hat. Baumaterial liegt reichlich auf dem schlammigen Teichboden herum. Diesmal benutzte die raupenförmige Larve abgerissene Stängelbruchstückchen des Haken-Wassersterns. Zur Ausschmückung verbaute sie noch einen Bucheckernsamen direkt über dem Köchereingang. Vom Baustil her eher kurios und eigenwillig ist das inwendig behaglich mit Seidenfäden ausgekleidete Larvenheim eine warme, bequeme Verpuppungsstube und bei Bedarf ein gut getarnter Schlupfwinkel.
Gänzlich ohne Wohnungssorgen sind Forelle und Groppe, zwei völlig unterschiedliche Fischarten, die beide im Alme- Quellteich leben. Während die Forellen tagsüber torpedogleich aus Pflanzendecken hervorschießen, um ihrer Beute nachzujagen, träumen die schuppenlosen Groppen noch in ihren Schlupfwinkeln. Sie verdösen den Tag unter Steinen oder unter überhängender Ufervegetation. Ihr abgeflachter Körper eignet sich ideal für die Jagd am Boden. Doch erst im Schutz der Nacht begeben sie sich gründelnd auf die Suche nach kleinen Fischen und anderem Wassergetier.
Kleine Fische mag auch der selten gewordene Eisvogel – ein fliegender Juwel – der noch vereinzelt am Almebach und in näherer Umgebung zu beobachten ist. Im schillernden Kontrast zur rostroten Bauchseite leuchtet sein Gefieder je nach Lichteinfall von smaragdgrün bis türkisblau. Trotz der auffälligen Färbung bleibt der spatzengroße Vogel mit dem unverhältnismäßig langen Schnabel und den knallroten, kurzen Füßen oft unentdeckt. Häufig wird er erst dann bemerkt, wenn er mit gellend lautem, langgezogenem Pfiff dicht über der Wasseroberfläche dahinschießt.
Weiter südlich im Teich, dort wo die Almequellen kleine Rinnsale bilden, geht es nicht ganz so farbig-schillernd zu. Dafür residiert am Ufer der »Mini-Bäche« eine echte Rarität. Im schlicht-weißen Blütenkleid gedeiht hier – schon seit der letzten Eiszeit – das Pyrenäen-Löffelkraut. Ein Highlight Almer Natur! In Deutschland gibt es nur wenige Blütenpflanzen, die in so schier endlos langen Ahnenreihen den gleichen Ort bewohnen. Begeistert pilgern darum Jahr für Jahr Heerscharen andächtig staunender Botaniker und Botanikerinnen zur Blütezeit des Löffelkrauts zu den Almequellen.
Und frei nach dem Motto »Gleich und Gleich gesellt sich gern«, hat sich ein weiterer weiß blühender Kreuzblütler im kühlen Wasser der Quellrinnsale ausgebreitet. Die Braune Brunnenkresse, im Sauerland nur an wenigen Plätzen zu finden, liebt
»nasse Füße«. Als dicht zusammengedrängelter Rasen ducken sich die Pflanzen gemeinsam in die Flut; einige der Blätter tragen noch ihre bronzefarbene Wintertönung.
Mal über mal unter Wasser – der Sumpfdotterblume scheint es egal zu sein. Sie setzt dort, wo sie wächst, markante gelbe Farbtupfer in die grüne Landschaft.
Hoch hinaus dagegen will der Teichschachtelhalm. Vor dem Hintergrund seiner Ahnentafel ist das durchaus verständlich. Vor Millionen Jahren, in der Erdperiode des Karbon und Perm, beherrschten einige seiner Ur-Verwandten als Baumriesen die Vegetation. Heute, im Zeitalter überschlanker Mannequinfiguren, recken sich auch die Schachtelhalmstängel trendgemäß rank und schlank aus dem Wasser.
Oberhalb der Almequellen, direkt am Eingang des Mühlentals, setzt man auf Altbewährtes. Lange vor Laubaustrieb der Bäume, während die meisten Pflanzen noch auf günstige Außentemperaturen warten, um Stoffe für Wachstum und Entwicklung zu produzieren, entfaltet der Hohle Lerchensporn schon ausgedehnte, bunte Teppiche in lilafarbenem, reinweißem und purpurnem Blütenflor. Der Frühstart gelingt nur, weil man auf »Eingemachtes« aus dem Vorjahr zurückgreifen kann, welches die Pflanzen in planvoller Vorausschauung schon während ihrer Blüh- und Fruchtphase in ihre hohlen, unterirdischen Knollen einspeichern. So sind sie gut gerüstet für den Schnellstart im nächsten Vorfrühling.
Hummeln müssen sich ihren Betriebsstoff erst noch suchen. Als einzige Überlebende ihres Volkes fliegen im zeitigen Frühjahr nur die Königinnen aus, um Nektar und Pollen für den künftigen Hummelstaat einzusammeln. Da ist das Blütenmeer des Lerchensporns eine geradezu verlockende Aufforderung sich der unzähligen Nektarquellen zu bedienen. Nicht ganz so einfach, wenn man wie die Erdhummel nur einen kurzen Rüssel besitzt, die »süße Speise« jedoch im langen Sporn der Blüte verborgen liegt. Hier ist totaler Einsatz und hohe Kreativität gefordert. Doch die Hummel weiß sich zu helfen. Schwergewichtig hängt sie sich an das untere Blütenblatt des Lerchensporns und wuchtet mit eigenem Körpergewicht den Sporn nach oben. Nun fließt der Nektar wie von selbst in den kurzen Rüssel.
Nicht gewichtig, aber gehaltvoll im Duft, so präsentiert sich im Mühlental an einem schattigen Hang der Bärlauch mit reinweißen Blütendolden. Doch was da so »wohlriecht«, sind weniger die Blüten. Der intensive Geruch dieses Liliengewächses, den verzärtelte Nasen auch als bleierne Knoblauchwolke empfinden, wird überwiegend von den Blättern verströmt. Gourmets aber und clevere Spürnasen folgen der Duftspur und stehen bald vor einem üppigen Wildbeet. Ein paar Blättchen für die Suppe oder den Salat sind erlaubt – doch Vorsicht! Der giftige Aronstab hat sich mit ähnlich aussehenden Blättern im »Gemüsebeet« versteckt.
Im Wildgarten gehen noch andere Leckermäuler auf »Erntepirsch«. Heimlich und fast unbemerkt ziehen kleine Ameisentrupps durch den wuchernden Blätterwald. Als typische Gemischtköstler nehmen sie mit, was sich gerade anbietet: Blütenknospen, Blätter, Larven, Käfer, tote Fliegen etc. Zur Fruchtzeit vieler Blütenpflanzen jedoch werden sie vorübergehend zu Vegetariern. Dann nämlich machen sich ganze Ameisenkolonnen auf die Suche nach den beliebten »Ameisenbrötchen«, auch Elaiosom
genannt. Viele Samen produzieren die nahrhafte Beigabe als wohlschmeckendes, ölhaltiges Anhängsel. Es ist als »Entgelt« gedacht für willige Transporteure. Dieser Idee folgen auch das Waldveilchen und der Lerchensporn. Nicht so der Bärlauch – er benötigt diese Taktik nicht. Seine Samen werden portofrei transportiert; wenigstens ein Stück weit. Der Zweck jedoch ist erreicht; die verschleppten Bärlauchsamen wachsen und vermehren sich an neuer Stelle und erweitern so das Territorium ihrer Art.
Während unten auf dem Boden schon fleißig gesammelt und geerntet wird, lässt man hoch oben gerade erst die Hüllen fallen. Millionenfach wickeln, drehen, entfalten entfächern sich zarte Blattknospen aus ihren zu eng gewordenen Verpackungen. Für Blattknospenhüllen ist im Frühling Herbst. Im schwebenden Gleitflug sinken sie sanft auf die Erde. Nur an Windtagen tanzen sie noch für einen Augenblick als wirbelnder, wogender Schuppenregen in den Baumkronen.
Jetzt hat jedes Blatt genügend Raum zur freien Entfaltung und jeder entfaltet und gestaltet in eigener unnachahmlicher Art und Weise. Die Hainbuchenblätter zeigen sich im enggepressten Plissee, die Vogelkirschen klappen ihre Blätter wie Buchseiten auseinander, der Berg-Ahorn belaubt sich mit frischgrünen, noch etwas schlaffen Blatt-Fächern, die Buchenblätter erscheinen zunächst mit samtig-flaumiger Bedeckung; sie trauen der Frühlingswärme noch nicht so ganz; vielleicht zu Recht. Doch dieses Jahr gibt es keine verspäteten Nachtfröste.
Das erfreut auch eine Schar winziger Käfer, die schon seit einiger Zeit in der Laubstreu des Waldbodens nur darauf gewartet haben, dass die Buchen endlich austreiben. Zu Tausenden verlassen sie jetzt ihre Winterquartiere. Millimetergroße Buchenspringrüssler, schwarzgefärbt und feinbehaart, fliegen und springen mit kleinen, aber kräftigen Hüpfern die Baumstämme hinauf. Es muss schnell gehen, denn auf dem Weg nach oben lauern schon Kleiber, Baumläufer und die schnellen Zungen der Spechte. Doch wie jedes Jahr überwindet der überwiegende Teil der Käfertruppe das erste größere Hindernis im Jahr mit Bravour. Oben angekommen wartet das Schlaraffenland: junge, zartweiche Buchenblätter – eine
»Buchenspringrüssler-Delikatesse«.
Dass es den Käfern geschmeckt hat, ist ein paar Tage später an den schrotschussartigen Durchlöcherungen der Blätter zu sehen.
Satt und nun vollständig erwachsen legen die Weibchen der Springrüssler ihre Eier einzeln in die Mittelrippe auf der Unterseite der Buchenblätter ab. Eine neue Generation wächst heran; erst Larve, dann Puppe und im Spätsommer schlüpfen die Jungkäfer. Bis zum Herbst fressen sie noch ein wenig an den Blättern und segeln dann, mitsamt ihren Sommerwohnsitzen, beim ersten Sturm in die Winterquartiere.
Nicht ganz soweit fortgeschritten in ihrer Entwicklung sind die Leberblümchen. Doch auch sie haben ihren Blühhöhepunkt Anfang Mai längst überschritten. Wenn die ersten enggerollten Blätter der Maiglöckchen die Erde durchstoßen, der blühende Waldmeister Maibowlenduft verströmt und wenn aus Spechthöhlen die Jungbrut ewig hungrig Zeter und Mordio schreit, dann beginnt der Sommer und für die strahlend-blauen Frühlingsblumen wird es Zeit für den Rückzug in tiefere Gefilde. Doch man verschwindet nicht gänzlich von der Oberfläche. Die leberlappenähnlichen Blätter der wunderschönen Frühjahrspflanze sind das ganze Jahr über in der Krautschicht des Buchenbergs zu sehen – vielleicht als eine Botschaft der Vorfreude auf den kommenden Frühling gedacht?
Der Frühling im Mühlental bei den Almequellen ist eine endlose Geschichte. Eine Geschichte, die jedes Jahr anders, jedes Jahr neu und doch so alt ist.